Derzeit kursieren in den Medien Fotos, die zeigen, wie ein Eisbär den Kadaver eines Delfins frisst. Sowohl in den Artikeln, die dazu veröffentlicht werden, als auch in den Kommentaren werden verschiedene Vermutungen und Behauptungen vorgebracht, die alles in allem Anlass sind, das Thema hier zusammenfassend aufzugreifen.
Die Beobachtung war bereits im April 2014, als Jon Aars, Eisbärenforscher beim norwegischen Polarinstitut, im Raudfjord einen Eisbären entdeckte, der dabei war, den Kadaver eines Weißschnauzendelfins zu fressen. Wie genau der Delfin zu Tode gekommen war, wurde nicht beobachtet. Trotzdem lassen sich aus der Situation allerhand Rückschlüsse ziehen. In der folgenden Zeit wurden noch weitere Eisbären mit weiteren toten Delfinen im gleichen Fjord gesehen.
Weißschnauzendelfine sind häufig in Spitzbergen, allerdings eher auf offenem Meer und nicht in den Fjorden, so dass sie nicht allzu oft gesehen werden. Das trägt zur weitverbreiteten Annahme bei, dass es Delfine in der Arktis eigentlich nicht gibt und dass ihr scheinbar plötzliches Auftauchen dort nun möglicherweise ein Zeichen der Klimaänderung sein müsse. Ganz unabhängig von der zweifellos stattfindenden Klimaänderung ist dieser Rückschluss falsch, denn sie sind häufig in der Region, sie halten sich nur meist von den Küsten eher fern. Gelegentlich werden Weißschnauzendelfine aber auch in den Fjorden gesehen.
Es steht zu vermuten, dass die betreffenden Weißschnauzendelfine im Raudfjord von Treibeis eingeschlossen wurden, das der Nordwind in den Tagen zuvor gegen die Küste getrieben hatte. Im Fjord waren die Delfine gezwungen, regelmäßig an kleinen Löchern im Eis aufzutauchen und Luft zu holen, wo sie, wie sonst Robben, zur leichten Beute von Eisbären wurden. Eisbären sind in der Lage, auch große Robben mit Prankenschlag oder Biss in den Schädel unmittelbar zu töten und sie dann aus einem Eisloch hinauszuziehen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie das mit den Delfinen, deren Größe mit der einer Bartrobbe vergleichbar ist, ebenfalls können, sobald diese entgegen sonstiger Gewohnheit gezwungen sind, in einem Atemloch im Eis aufzutauchen.
Eisbären sind als Nahrungsopportunisten bekannt, fressen also alles, was sie zu fassen bekommen und kauen können. Es ist alles andere als überraschend, dass sie auch Delfine nicht verschmähen, wenn sich ihnen die seltene Gelegenheit bietet. Es wäre im Gegenteil merkwürdig, wenn sie das nicht täten.
Dass Eisbären normalerweise keine Delfine fressen, liegt einfach daran, dass Delfine aufgrund ihrer Lebensweise im offenen Wasser für Eisbären sonst unzugänglich sind. Wie heißt es so schön: verwechsle nie Enthaltsamkeit mit Mangel an Gelegenheit (ist von Goethe, glaube ich).
Die mehrfach vorgebrachte Behauptung, Eisbären würden wegen des Klimawandels nun mangels Zugang zu ihrer sonst üblichen Nahrung (schwierige Formulierung bei ausgeprägten Nahrungsopportunisten) notgedrungen auf Delfine ausweichen, die – ebenfalls wegen des Klimawandels – auf einmal weiter im Norden seien als sonst, ist also in mehrfacher Hinsicht nicht haltbar. Es gibt in der Arktis immer noch viele Dinge, die man erst noch beobachten muss. Was Eisbären in abgelegener Gegend im Winter tun, ist für sie noch nicht unnormal, nur weil Menschen nur selten die Gelegenheit haben, ihnen dabei zuzuschauen.
Eisbärenforscher Jan Aars wird mit der Vermutung zitiert, dass Weißschnauzendelfine möglicherweise für eine kleinere Gruppe spezialisierter Bären künftig eine wichtige Nahrungsquelle sein könnten. Wie Eisbären künftig in der Lage sein sollen, abseits seltener Einzelereignisse, in denen die Delfine wegen ungewöhnlicher Umstände quasi auf dem Tablett geliefert werden, diese Tiere zu fangen, erwähnt er nicht. Angesichts dieser kaum überwindbaren Schwierigkeit und aufgrund einer bislang einmaligen Beobachtung ist das eine gewagte These. (Es gibt mehrere Fotos, die 2014 über einen Zeitraum von mehreren Monaten entstanden sind, aber alle die gleiche Gruppe von Eisbären und toten Delfinen in der gleichen Gegend in Nordwest-Spitzbergen zeigen).
Fazit: ein sicherlich sehr ungewöhnliches Ereignis, das aber in keiner Weise mit Klimawandel oder verändertem Verhalten von Eisbären zu tun haben muss, sondern ein seltenes Zusammentreffen außergewöhnlicher Umstände war.
Quelle: Polarresearch.net