Die Diskussion um die kontroversen Gesetzvorschläge der norwegischen Regierung für Spitzbergen, darunter die faktische Sperrung großer Teile der Inselgruppe für die Öffentlichkeit, bekommt neues Futter in Form eines Rechtsgutachtens. Das Gutachten wurde im Auftrag von Aeco (Branchenverband Arktis-Schiffstourismus), Visit Svalbard (Tourismusverband in Longyearbyen) und Svalbard Næringsforening (Wirtschaftsverband Longyearbyen) erstellt. Kernpunkte des Gutachtens wurden von der Svalbardposten vorgestellt.
Im Kern geht es um eine Reihe von Gesetzvorschlägen der norwegischen Regierung, die noch auf die vergangene Regierung zurückgehen (im September gab es in Norwegen Parlamentswahlen und einen Regierungswechsel).
Die meiste öffentliche Kritik, auch international, zieht das Vorhaben auf sich, große Teile der Inselgruppe Svalbard faktisch für die gesamte Öffentlichkeit zu sperren. Die Öffentlichkeit, die sich überhaupt in den abgelegenenn Teilen der Inselgruppe bewegt, besteht weitgehend aus schiffsbasiertem Tourismus, der schon lange stark reguliert ist (u.a. Schwerölverbot in weiten Teilen Svalbards, Begrenzung der erlaubten Personenanzahl bei Landgängen und der Schiffsgrößen in den Naturreservaten, die den ganzen Osten Svalbards umfassen), Forschung und – in quantitativ weit geringerem Umfang – Lokalbevölkerung und Individualtouristen, v.a. mit eigenen Segelbooten.
Das Gesetzvorhaben ist erkennbar vor allem gegen den schiffsbasierten Tourismus gerichtet, würde aber auch alle anderen treffen. Prinzipiell stehen die Spitzbergen-Inseln Schiffsreisenden bislang weitgehend offen, von diversen lokalen Sperrungen abgesehen, die schon länger bestehen. So besuchen Touristen im Sommer mehrere hundert Stellen, die über die gesamte Inselgruppe verteilt sind. Dieser Besucherverkehr konzentriert sich allerdings weitgehend auf eine deutlich geringere Anzahl von relativ gut zugänglichen, bekannten Orten; die meisten sonstigen Orte sind eher exotisch und selten besucht, aber dennoch sehr wichtig gerade für lange Reisen.
Das aktuelle Gesetzvorhaben würde diese Bewegungsfreiheit radikal beschränken. Im Gespräch ist aktuell, die möglichen Landeplätze in allen Schutzgebieten rund um Svalbard von mehreren hundert auf 42 einzudampfen, wobei wegen Wind, Wetter, Eis und Eisbären ohnehin kaum jemals alle theoretisch denkbaren Landestellen tatsächlich zugänglich sind (darin liegt ein wichtiger Grund dafür, warum eine deutlich größere Auswahl so wichtig ist: Flexibilität ist ein essenzieller Teil der Sicherheit in diesen Gebieten: ist eine Landestelle wegen Wind/Wetter/Eis/Eisbären bislang nicht oder nur unter Risiko zugänglich, ist man eben ausgewichen). Und auf den wenigen noch verbleibenden Stellen würden sich in der Hochsaison künftig mehrere Dutzend Schiffe drängeln.
Die folgenden zwei Kartenskizzen illustrieren am Beispiel des Nordaustlands, wie drastisch eine Umsetzung des Gesetzesvorschlags die Bewegungsfreiheit der Öffentlichkeit einschränken würde. Analoge Karten ließen sich entsprechend für fast alle anderen Teile Spitzbergens darstellen:
Landestellen auf dem Nordaustland und umliegenden Inseln, die in den letzten Jahren von Touristen besucht wurden (nicht vollständig).
Landestellen in diesem Gebiet, die nach dem nun auf dem Tisch liegenden Gesetzvorschlag ab 2023 noch erlaubt wären (vollständig).
Ob so drastische Einschränkungen mit dem Spitzbergenvertrag vereinbar wären, der Bürgern und Unternehmen der Unterzeichnerstaaten prinzipiell freien Zugang zu Spitzbergen garantiert, ist noch eine andere Frage. Diese müsste allerdings wohl von der Regierung eines Unterzeichnerstaates gestellt werden, wenn jemand in Oslo sich damit mal ernsthaft beschäftigen soll.
Umstrittene Gesetzvorhaben (2): erweiterte Meldepflichten für Touren
Ein weiterer Teil des gesamten Gesetzespakets beinhaltet eine Erweiterung der bereits umfangreichen Meldepflichten für Touren in Gebiete außerhalb der Gemeindegebiete.
Umstrittene Gesetzvorhaben (3): Abstände zu Eisbären und Walrossen
Eigentlich im obenstehenden Punkt (1) angesiedelt, ist auch dieser Aspekt so zentral und einschneidend, dass er nicht in einem langen Abschnitt untergehen darf, sondern einer eigenen Darstellung bedarf: Die geplante gesetzliche Forderung ist, dass künftig generell 500 Meter Abstand zu jeglichen Eisbären sowie 300 Meter Abstand auf See zu Walrossen einzuhalten sind.
Insbesondere der generelle Abstand von 500 Metern zu Eisbären würde einen weiten Teil der touristischen Grundlage für eine ganze Branche zerstören: Eisbärensichtungen sind für viele Spitzbergen-Touristen, inbesondere im Kontext längerer Reisen auf kleinen Schiffen, ein wesentlicher Teil der Motivation für eine solche Reise. Beobachtungen innerhalb deutlich kürzerer Abstande von Schiffen oder kleineren Booten aus sind Alltag auf solchen Reisen und führen nicht zu Gefährdungen von Mensch oder Tier. Bei richtiger, rücksichtsvoller Praxis kommen auch Störungen von Eisbären nur ausnahmsweise und nicht in nennenswertem Umfang vor, es sei denn, man betrachtet es als prinzipiell inakzeptabel, dass ein Eisbär aufsteht und ein Stück weiter geht.
Eine Annäherung an Eisbären, die eine Gefahr für Mensch oder Tier oder eine Störung nach sich zieht (NICHT aber die Annäherung prinzipiell), ist nach dem bestehenden Spitzbergen-Umweltgesetz (Svalbardmiljølov) schon lange verboten. Hier besteht also kein regulatorisches Defizit, sondern höchstens – das ist im Einzelfall aber auch unbestritten der Fall – ein Durchsetzungsdefizit.
Es gibt keine Daten, die vermuten lassen, dass Störungen von Eisbären ein Problem für den Tierschutz wären. Es gibt unbestreitbar ärgerliche Einzelfälle, in denen das Verhalten von Touristen (oder Einwohnern), mit oder ohne Guides, gegenüber Eisbären oder anderen Tieren nicht akzeptabel ist. Solche Fälle werden aber bereits vom geltenden Recht erfasst; hier besteht „nur“ ein Durchsetzungsproblem, das auch durch neue Gesetze nicht behoben werden dürfte. Für ein systematisches Problem, das über Einzelfälle hinausgeht und für Tiere ernsthaft problematisch wäre, gibt es hingegen keinerlei Datengrundlage.
Was Walrosse betrifft: vor ein paar Jahren hat das norwegische Polarinstitut mittels automatischer Kameras bei mehreren Walrosskolonien ein Forschungsprojekt durchgeführt, um das Verhältnis von Walrossen und Menschen zu untersuchen, insbesondere im Blick auf touristische Besuche. Das Projekt kam zu dem Ergebnis, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass der touristische Verkehr ein Problem für Walrosse darstellt.
Dies sind die Gesetzvorschläge, die die Öffentlichkeit, zumindest die interessierte (darunter Touristen, aber nicht nur) weit über Spitzbergen hinaus unmittelbar betreffen. Aber das war es noch nicht:
Umstrittene Gesetzvorhaben (4): Qualifizierung und Zertifizierung von Guides
Ein weiteres Gesetzvorhaben betrifft die Qualifizierung und Zertifizierung der Guides. Kaum jemand bestreitet, dass hier grundsätzlich schon lange Handlungsbedarf besteht, und eine sinnvolle Zertifizierung würde von betroffenen Betrieben, Verbänden (etwa der Svalbard Guide Association) und Guides willkommen geheißen. Die aktuellen Vorschläge laufen aber darauf hinaus, den Beruf des Guides auf einen Schlag vom Status des komplett ungeschützten Berufs in eine Position zu bringen, die für die allermeisten wohl kaum erreichbar wäre. Aktuell gefordert ist ein Bündel an Zertifikaten, die nicht ortsansässige Aspiranten, die auch Reise- und Aufenthaltskosten tragen müssten, einen finanziellen Aufwand von geschätzt 10.000-20.000 Euro abverlangen würde. Das Ergebnis wäre absehbar wohl ein weitgehender Zusammenbruch der Branche, da kaum jemand diese Zertifikate hat oder mehr oder weniger kurzfristig erbringen kann. Das betrifft auch alte Hasen unter den Guides, die schon viele Jahre oder auch Jahrzehnte aktiv sind und für die es „nur“ darum ginge, schon lange praktizierte Fähigkeiten und Kenntnisse zu formalisieren. Auch sehr erfahrene Leute, die den Guide-Beruf schon lange professionell ausüben, würden es sich sicher mehrfach überlegen, ob der Aufwand sich angesichts der Gesamtentwicklung noch lohnt, und der Branche zumindest teilweise verloren gehen.
Umstrittene Gesetzvorhaben (5): Entzug des Wahlrechts für Ausländer
Das eingangs erwähnte Rechtsgutachten, das der Svalbardposten vorliegt, widmet sich der drohenden Sperrung weiter Teile der Inselgruppe, aber auch der Formalisierung des Guides-Berufs, und kommt insgesamt zu einem vernichtenden Urteil für beide Gesetzvorhaben.
An beiden Vorschlägen wird kritisiert, dass die Lokalbevölkerung und deren politische Vertretung, betroffene Branchen und andere Betroffene nicht einbezogen wurden. (Anmerkung: Theoretisch haben alle die Möglichkeit, im laufenden Hörungsverfahren Ansichten einzubringen, aber viele Betroffene haben starke Zweifel, ob kritische Meinungen über die reine amtliche Kenntnisnahme hinaus Gehör finden. Eine Einbeziehung darüber hinaus, insbesondere im frühen Stadium, fand nicht statt.)
Die Kernpunkte der Kritik des Gutachtens zur geplanten Sperrung weiter Teile Spitzbergens:
Es bestehen Zweifel, dass es eine ausreichende Rechtsgrundlage gibt.
Mangelhafte Daten und wissenschaftliche Grundlagen für so starke Einschränkungen.
Konsequenzen für betroffene Gebiete und Lokalitäten, auch die nach Plan zugänglich bleibenden, werden nicht dargelegt.
Wichtige Fachgrundlagen und Eingaben, die von Institutionen wie NINA (norwegisches Institut für Naturforschung, dessen Aufgabe u.a. genau darin besteht, Gesetzgebungsverfahren wie diesem eine fachliche Grundlage zu geben) oder dem Norwegischen Polarinstitut (dito) gegeben wurden, wurden nicht einbezogen. Das betrifft unter anderem die geforderten Abstände zu Eisbären und Walrossen.
Falsche Anwendung des vorbeugenden Prinzips („føre-var prinsippet“).
Mildere Eingriffe als die strengstmöglichen wurden anscheinend nicht ernsthaft erwogen.
Einseitige und negative Darstellung des Tourismus auf Svalbard, insbesondere des Schiffstourismus, ohne Daten- oder sonstige Grundlage.
Auch der Gesetzvorschlag des Justiz-/Wirtschaftsministeriums, wo es u.a. um die Formalisierung und Zertifizierung des Guide-Berufs geht, kommt in dem Gutachten nicht gut weg:
Konsequenzen für die Branche wurden nicht abgewogen, etwa die Kosten für nicht ortsansässige Guides für Kurse und Zertifizierung, die auf etwa 10.000-20.000 Euro geschätzt werden.
Vorhandene Kapazitäten und Kompetenzen wurden nicht erwogen.
Konsequenzen für die Verwaltung wurden nicht erwogen: wie viel Aufwand bringt die geforderte Erweiterung der Meldepflichten für Touren außerhalb der Siedlungen? Wie viele zusätzliche Stellen, Kosten und Zeit für Sachbehandlung sind zu erwarten?
Konsequenzen für Menschen und Gemeinden wurden nicht erwogen, etwa für die Attraktivität Longyearbyens, wo viele direkt und indirekt vom Tourismus leben, für Bevölkerung und Wirtschaft.
Fazit
Unter dem Strich ist die Botschaft des Gutachtens eindeutig: Die Gesetzesvorschläge sollten zurückgezogen und von Grund auf überarbeitet werden, unter einer neuen Definition der zu erreichenden Ziele sowie einer neuen Betrachtung der Rechtsgrundlagen und der wissenschaftlichen Grundlagen. Allerdings sind Beteiligte hier nur begrenzt optimistisch: Der Wille der involvierten Behörden, externe Meinungen zu hören und diesen tatsächlich Gewicht einzuräumen, scheint begrenzt zu sein, um es höflich zu formulieren. Und ein Zurückziehen eines bereits öffentlich vorliegenden Vorschlags beinhaltet natürlich auch ein zumindest implizites Eingeständnis, die vorbereitenden Arbeiten nicht gut genug getan zu haben.
Aber wie heißt es in den norwegischen Bergregeln? Es ist nie zu spät zur Umkehr.
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