Nach langer, kontroverser und oft emotionaler Diskussion hat nun die Regierung in Oslo entschieden und offiziell mitgeteilt: In Longyearbyen lebende Ausländer (Menschen ohne norwegischen Pass) wird das kommunale Wahlrecht entzogen sowie die Möglichkeit, für den Gemeinderat (lokalstyre) zu kandidieren.
Dieser kontroverse Vorschlag war eine Weile in der Diskussion und wurde auch auf dieser Seite bereits aufgegriffen; auf den entsprechenden Beitrag (hier klicken) wird für die Hintergründe verwiesen.
Effektiv bedeuten die neuen Regeln, dass Menschen ohne norwegische Staatsbürgerschaft, die in Longyearbyen wohnen, zudem mindestens drei Jahre in einer Gemeinde auf dem Festland als wohnhaft gemeldet (gewesen) sein müssen, um in Longyearbyen das aktive und passive Wahlrecht zun haben. Das trifft auf einen großen Teil der in Longyearbyen lebenden, nicht-norwegischen Bevölkerung nicht zu, unabhängig von der Länge der Zeit, die diese in Longyearbyen gelebt haben. Manche werden nun nach vielen Jahren bei der nächsten Kommunalwahl 2023 nicht wieder wählen dürfen und sind von einer Kandidatur ausgeschlossen.
Wie man sich vorstellen kann, führt die Entscheidung bei vielen Betroffenen zu Frustration und dem Gefühl, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, wie Svalbardposten schreibt.
Justizminsterin Emilie Enger Mehl begründet die Entscheidung folgendermaßen (aus der amtlichen Mitteilung der norwegischen Regierung, eigene Übersetzung): „Die Verbindung zum Festland trägt dazu bei, dass die, die zu jeder Zeit diese Gemeinde verwalten, gute Kenntnis und ein gutes Verständnis der Svalbardpolitik und des für Svalbard geltenden Rahmens haben. … Es werden … zum Betrieb von Dienstleistungen und Infrastruktur bedeutende Mittel vom Festland überführt. Einwohner mit Anbindung ans Festland werden daher oft zu dieser Finanzierung beigetragen haben. Die Forderung nach der Anbindung ans Festland muss auch in diesem Licht gesehen werden.“
Chor in Longyearbyen. Mitsingen darf jeder, wählen nicht.
Ergänzung (19.6.): Laut NRK sind etwa 700 EinwohnerInnen betroffen, die bislang wahlberechtigt waren. Im Gemeinderat sitzt derzeit genau eine Person mit nicht-norwegischer Staatsbürgerschaft, nämlich die Schwedin Olivia Ericson.
Kommentar
So weit so klar: wer (möglicherweise) gezahlt hat, soll bestimmen; wer nicht oder nur wenig (die Steuern in Spitzbergen sind niedrig) gezahlt hat und nicht den richtigen Pass hat, wird nicht politisch beteiligt.
Der Gemeinderat ist genau das: ein Gemeinderat. Er verwaltet lokale Verkehrswege, Kindergärten, Schule, sonstige Infrastruktur – was eine Gemeinde eben so macht. Auf die nationale Gesetzgebung einschließlich jener, die für Svalbard gilt, hat Longyearbyen Lokalstyre keinen Einfluss (sonst wäre diese Entscheidung der Regierung wohl auch kaum so gefallen, vor Ort sind die meisten gegen diese Änderung). Außerhalb des Gemeindegebiets hat der Gemeinderat nichts zu sagen.
Man fragt sich, wovor die norwegische Regierung Angst hat. Bislang ist die Lokalstyre fest in norwegischer Hand. Und selbst wenn eines Tages Dänen und Schweden, Deutsche und Thailänder ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend in der Lokalstyre sitzen und über die Finanzierung einer Straße oder eines Kindergartens mitbestimmen wollen – wo ist das Problem? Ein lokaler Abgeordneter der Rechtspartei („Høyre“) hat im Gemeinderat dazu letztes Jahr sinngemäß gesagt: „Hierbei geht es um Sicherheit, und da können wir keine Kompromisse eingehen.“
Das hätte man gerne etwas konkreter. Wo werden hier norwegische Sicherheitsinteressen berührt oder gar eingeschränkt?
Selbst wenn es so wäre: Die aktuelle Entscheidung ist nach Stand der Dinge präventiv, ein nennenswerter Einfluss nicht-norwegischer Gruppen auf die Lokalpolitik ist nicht erkennbar und auch nicht absehbar.
Für diese Prävention nimmt die norwegische Regierung in Kauf, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung Longyearbyens sich nun als Bürger zweiter Klasse sieht.
Norwegische Politiker lassen keine Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass Svalbard norwegisch ist, dass Longyearbyen norwegisch ist. Aber auf einmal soll eine Wohnzeit beliebiger Länge in Longyearbyen nicht mehr ausreichen, um den Rahmen norwegischer Politik für Spitzbergen zu verstehen?
Justizministerin Mehl sagt: „Niemand wird von den demokratischen Prozessen ausgeschlossen, aber du musst drei Jahre auf dem Festland gewohnt haben, um in der Lokalstyre zu sitzen.“ (Svalbardposten).
Es ist schwer zu sagen, was mehr beunruhigt: Dass die Regierung so einfach über die zahlreichen Hörungseingaben, die sich diesem Vorschlag gegenüber ablehnend geäußert haben, hinweg gegangen ist. Dass Mehl einfach behauptet, niemand würde „von den demokratischen Prozessen ausgeschlossen“, wenn tatsächlich genau das passiert. Kaum ein Bewohner Longyearbyens nichtnorwegischer Herkunft hat drei oder mehr Jahre in einer norwegischen Festlandsgemeine gelebt, und diese Bedingung ist für die allermeisten kaum zu erfüllen. Der Wunsch, das zu tun, wird auch kaum wachsen, nachdem Oslo den Betreffenden nun so deutlich den Mittelfinger gezeigt hat – ja, eine starke Interpretation des Vorgangs, aber genau so fassen viele diesen auf. Wo in einem europäischen, modernen, demokratischen Land wird Ausländern heutzutage das Stimmrecht entzogen, das sie über viele Jahre hatten? Es ist eine politisch unappetitliche, rechtsnationalistisch und ausländerfeindlich anmutende Entscheidung, die die norwegische Regierung hier getroffen hat. Innerhalb der europäischen Regierungen begibt sie sich damit in eine Gesellschaft, in der sie sich selbst wohl kaum sieht.
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