Zur heutigen Kommunalwahl in Longyearbyen, bei der etwa ein Drittel der früher Stimmberechtigten ihr Stimmrecht aufgrund der Nationalität verloren hat, gab die Gruppe „unwanted foreigners“ folgende Pressemeldung heraus (deutsche Übersetzung vom Inhaber dieser Seite). Sie bezieht sich auf eine Ausstellung in der unmittelbaren Umgebung des Wahllokals, bei der die nicht mehr demokratisch repräsentierten Bürgerinnen und Bürger Longyearbyens ihren Fußabdruck in der Gesellschaft symbolisch sichtbar machen wollen.
Pressemeldung: „unwanted foreigners“ – Bürger ohne Wahlrecht in Longyearbyen
Longyearbyen wählt einen neuen Gemeinderat – für die nicht-norwegischen Einwohnerinnen und Einwohner ein schmerzhafter Tag. Ihnen wurde das Stimmrecht genommen.
Früher konnten nicht-norwegische Staatsbürger ihre Stimme bei der Kommunalwahl abgeben, wenn sie drei Jahre dort gewohnt hatten – genau wie in Gemeinden auf dem norwegischen Festland.
Mit den neuen Regeln haben die meisten Angehörigen der nicht-norwegischen Bevölkerung ihre demokratischen Rechte verloren.
Heute, am 09.10.2023, ist Kommunalwahl in Longyearbyen – ein großer Teil der Einwohner steht dabei nun außen vor. Von diesen haben viele bereits viele Jahre in Longyearbyen gelebt und viel zur Gemeinschaft im Ort beigetragen. Dies wird in Stille gewürdigt – wie es für die, die nun stimmlos geworden sind, angemessen ist.
Viele wollten nicht persönlich vor dem Wahllokal erscheinen. Viele haben es wahrscheinlich als zu schmerzlich empfunden, selbst ihrer demokratischen Rechte beraubt anderen beim Wahlgang zuzuschauen. Eine kleine Ausstellung aus Fußspuren, gearbeitet aus Holz, macht diese Bürgerinnen und Bürger dennoch vor dem Wahllokal sichtbar.
Hier sind einige Texte in ihren Fußabdrücken im Gemeindewesen Longyearbyens:
Seit 9 Jahren auf der Insel. Habe einen norwegischen Betrieb mit 5 Angestellten.
Bewohner seit 15 Jahren – Stimmrecht in Trondheim, aber nicht mehr hier!
19 Jahre auf Spitzbergen. Ich rette dich aus Schneelawinen
21 Jahre auf Spitzbergen. Gewähltes Mitglied des Gemeinderates
Ich besitze einen Betrieb und bin in der Guide-Szene aktiv.
Drei Jahre in Longyearbyen. Skandinavischer Bürger :o(
Vier Jahre in Longyearbyen – lokaler Guide
Ich rette dich aus Gletscherspalten
Ich habe vorher nie gespürt, dass es „die“ und „wir“ war
8 Jahre auf der Insel. Ich repariere deine Kleidung. Habe eine norwegischen Betrieb mit 3 Angestellten.
Wir sind Longyearbyen
Ich sorge dafür, dass du nach dem Marathon zu einem Abendessen gehen kannst
In Longyearbyen aufgewachsen. Norwegische Werte in der Schule gelernt
War bei der letzten Wahl aufgestellt. 16 Jahre in Spitzbergen. Oslo meint, dass ich weniger um Svalbardpolitik weiß als ein frischer Absolvent der Svalbard folgehøgskole (Anm.: eine öffentliche Bildungseinrichtung in Longyearbyen, die vor allem von jungen Erwachsenen genutzt wird)
Samen, Frauen, Ausländer – wir haben es alles schon gehabt. Stimmrecht für alle!
20 Jahre in Longyearbyen – habe für UNIS, NP, Forschungsrat gearbeitet (Anm.: UNIS ist die lokale Universität, NP (norwegisches Polarinstitut) eine große Forschungseinrichtung)
3 Jahre auf der Insel, mit Familie – arbeite im Kundendienst, und engagiere mich freiwillig
20 Jahre auf Svalbard. 20 Jahre in lokalen Betrieben. Ich liebe Longyearbyen und die Menschen, die hier leben. Stimmrecht für ALLE
In Longyearbyen aufgewachsen. In Longyearbyen zur norwegischen Schule gegangen. Spreche gut norwegisch. Aber gehöre jetzt nicht mehr dazu.
Norweger – 9 Jahre in Longyearbyen. Wählen ist sinnlos geworden
7 Jahre auf der Insel. Ich betreibe eine Recyclingwerkstatt (ehrenamtliches Engagement), führe die Svalbard Guide Association & bin ganzjährig Guide. Habe bei UNIS gearbeitet.
Ehrenamtlich engagiert seit 2017. Habe Spitzbergen von Müll befreit. Rotes Kreuz, Sportverein.
5,5 Jahre Svalbard. Habe meine Beiträge zur Gemeinschaft geleistet und werde jetzt als wertlos betrachtet
12 Jahre auf der Insel und halte deine Wohnung sauber
7 Jahre Svalbard – Guide und lokaler Unternehmer – arbeite mit 15 lokalen Firmen und weiteren auf dem Festland zusammen. Ich trage direkt zur norwegischen Wirtschaft bei … aber wir sollen nicht wirklich zählen?
7 Jahre Svalbard – Guide und Logistikmanager Polar X – früher konnte ich wählen! Wir machen die Dokus, die den Blick der Welt auf Svalbard und unsere Natur prägen … aber wir sind nicht wichtig genug, um auf die Lokalpolitik Einfluss zu nehmen (Anm.: Polar X ist eine bedeutende Firma in Longyearbyen, die hochwertige Filmproduktionen realisiert)
Wer wird noch die Geduld haben, um den Norwegern ihre Getränke zu servieren …
Longyearbyen ist meine Heimat
10 Jahre Svalbard. Ich habe Freunde, die für das Recht zu wählen gestorben sind. Norwegen ist nicht besser als Russland
8 Jahre Svalbard. 2,5 Jahre auf dem Festland. Stolzer Kanadier. Wichtiger Arbeiter für Norwegen. Eure „Demokratie“ ist ein Witz – unsere Leben nicht. Schämt euch!
29 Jahre Svalbard. Damals fühlte ich mich willkommen.
11 Jahre Forschung und Unterricht in arktischer Ökologie
Demokratie ist etwas, wofür man aufstehen muss
Es hat etwas bedeutet, während der Pandemie zur Renovierung der Nordenskiöldhütte beizutragen (Anm.: die Nordenskiöldhütte ist eine historische Hütte von 1933 und steht auf einem Berg in über 1000 Meter Höhe bei Longyearbyen. Ihre Renovierung erforderte viel Einsatz Freiwilliger)
Bergarbeiter
Svalbard: seit 26 Jahren tragende Säule meines Lebens. Und plötzlich Bürger zweiter Klasse
Ein Jahr auf der Insel. UNIS-Student, Guide und Mitglied der Guide-Vereinigung
6 Jahre auf der Insel. Ich kann dich aus einer Schneelawine retten
Es macht mir Freude, nach der Kohlezeit zur Entwicklung des Ortes beizutragen
12 Jahre auf der Insel, früher konnte ich wählen. In 17 Jahren kann mein Sohn wählen, ich hoffe, mit mir zusammen.
Man ist am besten auf die Gemeinschaft stolz, nicht auf die Nationalität
Am heutigen Montag, 09. Oktober, ist in Longyearbyen Wahltag: Die Wahlberechtigten können mit ihrer Stimme die Zusammensetzung der „Lokalstyre“, des Gemeinderates, bestimmen. Es ist die achte Kommunalwahl, seit Longyearbyen 2002 zu einer Kommune mit Lokaldemokratie wurde. Vorher war Longyearbyen politisch eher als eine Art erweitertes Betriebsgelände aufgestellt.
Longyearbyen Lokalstyre: heute ist Kommunalwahl
– erstmals unter Ausschluss ausländischer Passinhaber.
Zunächst geht es bei dieser Kommunalwahl um Dinge, um die es bei einer Kommunalwahl eben geht: Verkehr in und außerhalb von Longyearbyen, Gesundheit für Mensch und Tier (speziell die Themen „psychische Gesundheit“ und „Tierarzt“ sind in Longyearbyen schwierig), Wohnungsmarkt, Hafengebühren, Wirtschaft, Kultur, Sport, Schule, Energie und Umwelt.
Daneben ist die Wahl selbst aber auch Wahlthema. Wie schon mehrfach berichtet, hat die norwegische Ministerin für Justiz und Bereitschaftsdienste, Emilie Mehl (Senterparti), per Vorschrift verfügt, dass Ausländer ab der heutigen Wahl ihr aktives und passives Stimmrecht verlieren: Wer ohne norwegische Staatsbürgerschaft in Longyearbyen wählen oder gewählt werden will, muss zuvor mindestens drei Jahre auf dem norwegischen Festland gelebt haben und direkt von dort nach Longyearbyen gezogen sein. Wer zwischendurch außerhalb von Norwegen gelebt hat oder auch in Spitzbergen außerhalb von Longyearbyen (etwa in Ny-Ålesund – mindestens einen Fall dieser Art gibt es), hat damit das Wahlrecht verloren.
Da die neue Regelung eine Vorschrift ist und nicht etwa ein Gesetz, wurde sie auch nicht vom norwegischen Parlament (Storting) diskutiert und beschlossen, sondern trat direkt aus dem Ministerium heraus in Kraft.
Alle der vier in Longyearbyen zur Wahl angetretenen Parteien treten dafür ein, dass alle in Longyearbyen lebenden Menschen an politischen Prozessen teilnehmen können sollen, und zumindest zwei dieser vier Parteien wollen die neue Vorschrift rückgängig machen und länger in Longyearbyen lebenden Ausländern wieder die Teilnahme an der Lokalwahl ermöglichen. Zuständig ist allerdings die Regierung in Oslo. Die norwegischen Grünen sind nach der Wahlrechtsänderung lokal nicht wieder angetreten, da sie ohne ihre nicht-norwegischen Mitglieder im Gegensatz zu früheren Wahlperioden nicht genügend Kandidatinnen für ihre Liste zusammen bekommen.
Betroffene Ausländer haben sich lose unter der Bezeichnung „unwanted foreigners“ („unerwünschte Ausländer“) zusammengeschlossen und versuchen, dadurch politisch sichtbar zu werden. Betroffen sind mehrere hundert Personen, die Rede ist von etwa einem Drittel der früher Wahlberechtigten. Viele davon leben seit vielen Jahren in Longyearbyen, einige sind dort aufgewachsen und so ziemlich alle fühlen sich nun als Verlierer in einer politischen Zweiklassengesellschaft.